Die Ruhe auf der Flucht

3 06 2010

„Sie können da jetzt nicht rein, hören Sie? Wir sind noch nicht so weit. Im Moment diskutieren wir die strategischen Alternativen, die es bekanntlich gar nicht gibt. Sie können jetzt auch nichts ausrichten, wir müssen erst einmal diese Wahl abwarten, und dann werden wir mal sehen, was kommt. So war es doch immer. Erst mussten wir die Bundestagswahl abwarten und dann die Landtagswahl und jetzt eben die Bundesversammlung. Und dann werden wir mal sehen, ob wir dann – aber dann wird’s auch gleich ernst mit dem Regieren. Ganz bestimmt.

Aber die Wagen volltanken, hören Sie? Das ist ja keine billige Landpartie, wir müssen quer durch Osteuropa, bis wir uns nach Chile absetzen. Klar, die Zwischenlandung in Brisbane ist da schon mit einkalkuliert. Sehen Sie zu, dass Sie den Tubensenf einpacken. Der Herr Außenminister mag seine Frikadellen gar nicht ohne Senf. Da ist er eigen. Weil das so ist, ja. Das kann er sich auch leisten, jetzt, wo es auf nichts mehr ankommt. Er hat doch seine Schäfchen sowieso im Trockenen.

Das ist so, wer etwas weiß, der haut jetzt ab. Halten Sie das mit dem Präsidenten für einen Zufall oder einen Lapsus? Zu früh zurückgetreten, weil die Opposition sich noch nicht auf ihn eingeschossen hatte? Ach was, das glauben Sie doch selbst nicht. Er wusste zu viel. Er wusste, dass uns diese ganze Blase jetzt um die Ohren fliegt. Im Gegensatz zu den Schönwetterkopfrechnern, die mit mehr als fünf Fingern Probleme bekommen, kennt Köhler sich aus mit Volkswirtschaft und Finanzsystemen. Vor allem mit solchen, die er selbst installiert hat.

Bei Eriwan links ab, und dann immer auf die Küste zu. In Baku liegt ein Kanonenboot, das muss reichen. Nein, ich sage doch: Sie können da jetzt nicht rein. Der Innenminister packt auch gerade, da stören Sie bloß. Wir haben eine Menge vor, und Sie wollen doch wohl nicht Schuld sein, wenn wir ein paar Erkenntnisse hier liegen lassen, oder?

Von der Leyen? Keine Ahnung. Hier bleibt sie nicht. Die Koffer sind doch auch schon drüben. Sie hatte reserviert: Fensterplatz. Die Kanzlerin spricht ja nicht darüber, wenn sie sich einmal entscheidet. Sie kennen das, wenn Sie beim Bestatter den Sarg aussuchen sollen. Man ist unter Druck, verliert die Übersicht, man weiß so richtig gar nicht, was man will. Dann sagt der Mann da irgendwas von Eiche und Qualitätsarbeit, und wenn Sie das Schild sehen, bekommen Sie einen Schock, was das Möbel dann kosten soll. Sie zittern in den Knien, der Magen wird wie eine Faust. Sie müssen sich setzen. Dazu die Angst, die Angst – Sie wissen es nicht, Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie sind froh, dass der Mann im schwarzen Anzug Ihnen sagt, da gibt’s auch ein anständiges Modell eine Preisklasse darunter. Das nehmen Sie dann. Sie sind erleichtert. Vielleicht ein bisschen beschämt, dass Sie sich den teuren Sarg nicht hätten leisten können. Und Sie wissen nicht, was der Bestatter weiß: dass der teure Sarg im Einkauf viel weniger kostet, dass es bloß dies protzige Preisschild ist, dass die teure Truhe noch keine Sau gekauft hat. Nie zuvor.

Man weiß es ja nicht. Wissen Sie, was morgen sein wird? Sie haben von Krise geredet und dass unser ganzes Leben davon betroffen ist und auf den Kopf gestellt wird und dass wir alle an nichts anderes mehr denken können – denkt jetzt noch jemand an die Krise? Was stellt denn jetzt Ihr Leben auf den Kopf?

Nennen wir es halt eine belanglose Kapitulation. Republikflucht, wenn Sie wollen. Davon hat sie als kleines Mädchen schon geträumt. Sie wollte raus. Weg. Erinnern Sie sich an dieses Motiv? Die Ruhe auf der Flucht? Nur fliehen, irgendwohin, wo man nichts zu tun braucht. Eine ganze Existenz hinter sich lassen. Nur weg, nur weg von hier. Todestrieb? Soweit würde ich gar nicht gehen wollen. Vielleicht einfach nur ein Wunsch nach Regression. Ein sehr großer Wunsch. Alles um sich herum zerstören, die Tiere auf den Boden werfen, darauf herumtrampeln, die Kadaver anschreien und dann weinen, dass sie nicht zu einem sprechen – nein. Das ist sie nicht. Westerwelle vielleicht. Aber nicht die Kanzlerin.

Sie haben nichts begriffen, sie werden es nicht begreifen. Sie sind die Generation vor der Sintflut. Nur, dass sie es nicht wissen. Sie würden die Zusammenhänge nicht einmal verstehen, wenn Sie sie ihnen vortanzten. Da ist nichts mehr. Da kommt nichts mehr, und wenn das hier wirklich das Ende sein sollte, geschieht es so, wie es beschrieben wurde, in der Nacht, in der man es nicht erwartet.

Denn die Katastrophe birgt das Idyll; in jedem Wirbelsturm ist ein Auge der Ruhe. Auf einmal ist das Grauen vorbei, die Flucht vor sich selbst hält für einen Moment inne. Sie sind, wie sie es immer waren, aus der Zeit gefallen. Aus der Gegenwart heraus und in eine Zeit, die sie selbst nicht begriffen haben, weil sie sie ja nur als symbolische Form erlebt haben. Das ist das alte Leiden an der Nostalgie, dass der Schmerz, den das Erinnern verursacht, durch sich selbst getilgt werden soll. Sie richten zu Grunde, damit man es wieder aufbaut.

Es ist das Messer im Rücken; es ist nicht da, weil sie es nicht sehen können. Und darum werden sie immer weiter fliehen, weg von der Wirklichkeit, die sie bedroht. Es ist die Flucht vor sich selbst, denn man flieht vor der Festlegung auf einen Ort, auf eine Richtung, davor, sich zu entscheiden, Verantwortung zu tragen, und doch spürt man sich selbst nie so sehr wie hier: auf der Flucht.

Sie können da jetzt nicht rein. Nicht mehr. Und ich würde es Ihnen auch nicht raten. Lassen Sie es besser. Es ist kein schöner Anblick.“