Nebensunterhalt

15 10 2012

05.58 – Schlaftrunken erhebt sich Herbert F. (49) und geht ins Bad. Auf dem Weg wirft er einen Blick auf die lange Liste, die auf dem Schreibtisch liegt. Es wird an diesem Tag viel zu tun geben für den Bundestagsabgeordneten.

06:10 – Die Qual der Wahl: die Shampoos Fülliges Volumen und Makelloser Glanz buhlen um F.s Benutzung. Er weiß, dass er Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben hat. Auch bei Sachgeschenken der deutschen Kosmetik-Industrie.

06:32 – Widerwillig löffelt F. sein Frühstücksei. Seit einem kostenpflichtigen Auftritt auf der Tierschutzmesse Niedersachsen wird ihm das Hühnerprodukt nicht mehr zur Verfügung gestellt. Da ist F. als Parlamentarier natürlich machtlos.

06:50 – Der Fahrdienst wartet. F. muss sich beeilen, denn zwei konkurrierende Termine stehen auf der Agenda. Knappe fünf Minuten spricht der Abgeordnete zur Eröffnung der Internationalen Demokratie-Konferenz über das Thema „Sind wir noch zu retten?“. Mehr Zeit wird er sich nehmen für den Vortrag „Marktkompatibler Parlamentarismus“, der ihm trotzdem nur 1200 Euro einbringt.

07:44 – Interview im Hauptstadtstudio. Erst unmittelbar vor Beginn findet die Regie des Morgenmagazins den Umschlag. Von den 750 Euro, die F. für zwei Auftritte zu je zwei Minuten verlangt, ist vorerst nur die Hälfte enthalten. F. moniert das und fordert mehr Vertrauen in die Demokratie.

08:01 – Gerade noch rechtzeitig trifft F. auf der Regionalversammlung des Bäckereihandwerks Berlin-Brandenburg ein. Fünf Minuten später wären die Rosinenschnecken bereits unter den Delegierten verteilt worden. F. stopft sich zwei der süßen Teile in den Mund, würgt eine kurze Ansprache über die Notwendigkeit von Sparanstrengungen im Sozial- und Jugendbereich hervor und verlässt den Ort. Die üblichen 1450 Euro wurden bereits vor Tagen auf ein Nummernkonto in der Schweiz überwiesen.

08:26 – Kurze telefonische Rücksprache mit dem Versicherungskonzern Homburg Mühlsteiner AG. Der Vorstand bestätigt die Berufung des Abgeordneten in den Aufsichtsrat, unter der Voraussetzung, dass er in der kommenden Legislaturperiode nicht mehr gewählt wird. F. beruhigt den Vorstandsmitarbeiter. Zur Sicherheit lässt er ihm per Post das aktuelle Wahlprogramm seiner Partei zustellen.

08:38 – Auftritt vor Bankmanagern. F. verkündet unter dem Jubel der Zuhörer, dass er gegen eine Begrenzung von Boni stimmen werde. Im Gegenzug erwartet er, dass er seiner unabhängigen Abgeordnetentätigkeit nachgehen darf. Gemeint ist damit vorrangig die Unabhängigkeit vom Wählerwillen.

09:25 – Ein Anruf aus F.s Wahlkreis trifft ein. Die Bürokraft hat auf mehrere Angebote von Handels- und Handwerksunternehmen nur abschlägige Antworten erhalten; keine der Firmen wusste genau, was den Parlamentarier als Vortragsredner qualifiziert. F. verspricht, dies innerhalb der nächsten Wochen zu klären.

09:34 – Preisverhandlungen mit dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband. Wegen einer Verwechslung hält F. ein ernsthaftes halbstündiges Referat über Chancen und Risiken des modernen Arbeitsmarktes. Den Gästen war ein Außenminister angekündigt worden, der Männchen macht und nach Zuckerstückchen springt. Die Künstleragentur reagiert kulant und weist 7001 Euro an, damit F. auch einen Posten in Stufe 3 ausweisen kann.

09:55 – Eines der Unternehmen aus F.s Wahlkreis, ein Baustoffhändler, beschwert sich über die PR-Arbeit des Politikers. Er erwägt eine Abmahnung, da F. auf seiner Internetpräsenz keine Preisliste veröffentlicht.

10:12 – Kurzer Zwischenstopp vor dem Gewerkschaftshaus. Die zufällig anwesende Reisegruppe stellt sich als Anordnung chinesischer Aktionäre heraus, die die deutsche Leiharbeit kennen lernen wollen. F. improvisiert eine Begrüßungsrede. Keiner der asiatischen Gäste versteht ihn. Fünf Minuten umsonst.

10:28 – Ankunft in der Bundestagskantine. F. hört gerade noch die haushaltspolitische Rede der Fraktionskollegin Gisela W. (57), die mit einem Nusshörnchen und einem Gutschein für einen Teller Gemüsesuppe abgegolten wird.

10:34 – F. betritt den Plenarbereich. Er wird vom Auslandskorrespondenten einer schwedischen Tageszeitung befragt und gibt wahrheitsgemäß an, gerade eine politische Rede zu formulieren.

10:36 – Der Parlamentarier sitzt bereits wieder in der Limousine des Fahrdienstes. Zwischendurch probt er mit Hilfe seines Diktiergerätes die Eröffnungsansprache auf dem Ball der Berliner Briefmarkensammler e. V.

11:49 – Verärgert spricht F. Kai Diekmann auf die Mailbox. Auf Anraten seines Karrierecoaches nutzt der Abgeordnete jede Chance, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.

12:12 – Entsprechend der Offenlegung gegenüber dem Deutschen Bundestag geht F. einmal in der Woche seiner Nebentätigkeit in einer renommierten Anwaltskanzlei nach. Er gießt für über 3500 Euro die Blumen.

12:37 – Mit leichter Verspätung betritt F. das Podium der Tagung Sozialstaat im Umbruch. In seinem etwa halbstündigen Beitrag (über 7000 Euro) pocht der demokratisch gewählte Vertreter auf eine strikte Anrechnung auch kleinster Verdienste bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Man müsse das schon deshalb durchsetzen, um den Sonderstatus der Mitglieder des Deutschen Bundestages zu erhalten.

13:30 – Unter dem Jubel der Konferenzteilnehmer gibt F. ein öffentliches Interview, in dem er die Anrechnung des Betreuungsgeldes auf das ALG II verteidigt. Er wertet die spontan zugesteckten Geldscheine nicht als steuerpflichtiges Einkommen, da er die Spender nicht namentlich kennt.

15:22 – Auf dem Meeting Energiewende jetzt eines alternativen Stromanbieters erläutert F. vor 300 Zuhörern in groben Zügen seine persönliche Betroffenheit über den Stand des ökologischen Umbaus unserer Industriegesellschaft. Er nimmt über 1000 Euro ein.

16:45 – Anruf eines großen deutschen Verlags. Trotz eines deutlichen Talents als Redner nimmt das Unternehmen davon Abstand, F. zur Produktion von Hörbüchern zu engagieren. Wutentbrannt storniert er die Bestellung eines neuen Sportwagens.

16:56 – Auf dem Meeting Energiewende jetzt? eines führenden europäischen Stromkonzerns erläutert F. vor 600 Zuhörern in groben Zügen seine persönliche Betroffenheit über den Stand des ökologischen Umbaus unserer Industriegesellschaft. Er nimmt über 7000 Euro ein.

18:10 – Bei einer informellen Zusammenkunft mehrerer Industrievertreter (unter 1000 Euro) spricht F. (bis 7000 Euro) über die Zukunft der Interessenvertretung (knapp 3500 Euro) in der deutschen Politik (über 7000 Euro).

18:58 – Anruf aus der Fraktion. Eine Gruppe junger Abgeordneter wagt den Vorstoß und möchte F. als Kanzlerkandidaten ins Gespräch bringen.

19;01 – Nach kurzem Überschlag der Besoldung und der geldwerten Vorteile lehnt F. ab.

19:27 – In einer öffentlichen Diskussion (unter 1000 Euro) lässt sich F. vernehmen, dass er eine genauere und transparente Offenlegung der Abgeordnetennebentätigkeiten unterstützt. Statt Dies und das wird der Standardposten auf seiner Liste künftig Arbeit heißen.

19:59 – Ankunft im Fernsehstudio. Maske. In der Talkshow Doof, aber überflüssig steht F. Rede und Antwort. Er gibt an, zu wenig zu verdienen mit seinem Job als Abgeordneter, da er wegen der vielen Nebentätigkeiten nur knappe dreißig Minuten pro Tag im Bundestag verbringe. Den Parlamentariern, so F., drohe damit eine bittere Altersarmut.

21:57 – Am Rande der Fernsehdiskussion gerät F. mit einem politischen Gegner aneinander. Dieser droht, seine Autobiografie zu veröffentlichen. F. überlegt, wie viel ihn die Verhinderung dieses Buches kosten würde, und nimmt spontan das Angebot eines Finanzdienstleisters an, auf Kreuzfahrtschiffen Vorträge über die Riester-Rente zu halten.

22:34 – Auf der Rückfahrt in seine Wohnung beschließt F., nur noch Sachspenden anzunehmen. Er sieht keinen anderen Weg, doch zu einem italienischen Sportwagen zu kommen.

23:03 – Übermüdet kämmt Herbert F. sich vor dem Badezimmerspiegel. Gleich am nächsten Tag will er den Friseur besuchen. Man kommt ja zu nichts.

23:07 – Er löscht das Licht. So endet ein Tag im Leben eines Volksvertreters, der mit ganzer Kraft dem Wähler vorlebt, dass sich Leistung wieder lohnen muss.